Grenzlandweihnacht

 

 
Zwei Tage vor Weihnachten begann es leicht, aber unaufhörlich zu schneien. Das Städtchen Gottesgabe, immerhin auf einer Höhe von 1028 Metern, lag wie in eine schneeweiße Daunendecke gebettet, friedlich da. Der Schnee schluckte alle lauten Geräusche. Die Konturen der Häuser und Bäume wurden unscharf und weich. Unmerklich glitt die Dämmerung in die lange Winternacht hinüber.
Betty, Bernhard und Johanna saßen um den Kachelofen in der warmen Stube. Die Großmutter klöppelte, Johanna strickte und Bernhard spielte.
Plötzlich schlug die schwere Hausglocke zweimal an. Die drei blickten beunruhigt auf. Wer konnte das sein? Um diese Zeit öffnete man einem Fremden nur ungern die Tür.Da! Ein lautes Klopfen! Während die Großmutter durch das Guckloch in der Haustür spähte, verließ Johanna rasch den Raum, hastete die Treppe hinauf und versteckte sich auf dem Heuboden.
Allmählich war sie schon daran gewöhnt, rasch zu verschwinden, wenn ungebetener Besuch kam. Frauen und Mädchen, die nicht so vorsichtig waren, mußten es manchmal bitter büßen.
Klöpplerin
Endlich erschien Bernhard oben und holte sie wieder herunter.
Ein Mann und eine Frau standen in der Stube, zerlumpt, durchnäßt, ausgehungert. Vor zwei, drei Jahren hatte sie der Onkel Anton Kriegelstein gelegentlich nach ausgiebigen Wanderungen mit ins Kriegelsteinhaus gebracht. Betty kochte dann für alle einen guten Kaffee und wartete mit Kuchen auf. Für die Kinder hatte es dabei immer hübsche, kleine Geschenke gegeben, eine Wiesenblumenfibel, einen zauberhaften Porzellanfingerhut und andere Dinge. So etwas merken sich Kinder natürlich.
Der Mann, früher ein Herr, war Arzt oder Rechtsanwalt. Seine Frau, einst eine Dame, führte in Karlsbad ein vornehmes Porzellangeschäft. Nach Kriegsende wurden die beiden überraschend mit anderen Intellektuellen in ein Lager gebracht. Dort mußten sie im Kohlebergwerk arbeiten. Die Bedingungen waren unmenschlich. Viele starben. Durch einen Bestechungsversuch mit eingeschmuggelten Wertsachen war ihnen schließlich die Flucht gelungen.
In langen Märschen bei Nacht und Nebel durch Wälder und übers Moor hatten sie es bis zur Gottesgabe geschafft. Einen Kilometer nur lag der Ort von der rettenden Grenze entfernt. Doch die wurde jetzt scharf bewacht.
Mit der schonungslosen Offenheit der Jugend erklärte ihnen Johanna, daß sie als Ortsfremde es nie schaffen würden, über die Grenze zu kommen. An einen der noch wenigen professionellen Grenzführer war nicht zu denken, denn die verlangten jetzt Gold für ein so riskantes Unternehmen. Und Gold hatte keiner mehr von den Leuten.
Da erbot sich auf einmal Johanna, die beiden Flüchtlinge über die Grenze zu bringen.
Die Kirche in Gottesgab Es war nicht nur Mitleid mit den armen Menschen, die Straflager und Tod riskierten, wenn sie geschnappt wurden. Es war nicht einmal jugendlicher Leichtsinn, der die Größe der Gefahr falsch einschätzt. Betty war ja schon mehrmals gewarnt worden und zwar von der Tochter der Waschfrau, die vor langer Zeit einmal bei ihnen gearbeitet hatte. Sie wußte, daß Johanna wie sie selbst auch, die Grenze schon öfter überschritten hatte. Da sie Tschechisch verstand und bei den Grenzern als Köchin arbeitete, hatte sie sofort vom neuen Schießbefehl an der Grenze erfahren. Davon erzählte sie gleich auch der Frau Förster. Deshalb erhob diese bei dem überraschenden Vorschlag Johannas abwehrend die Hände. Ihrer armen Tochter habe sie, als diese auf dem Totenbett lag, versprochen, ihre Kinder aufzuziehen. Nun, da deren Vater aus dem Krieg nicht mehr heimgekommen sei, habe sie die Last der Verantwortung für ihre Enkelkinder allein zu tragen. Nie und nimmer dürfe sich Johanna in eine solche Gefahr begeben.
Was Johanna aber bewog, derart hartnäckig auf diesem Unternehmen zu bestehen, war eine Art innerer Widerstand. Es war wieder ein Aufbäumen gegen das totale Ausgeliefertsein nach dem verlorenen Krieg, als sie plötzlich, nur, weil sie Deutsche war, immer wieder für Dinge büßen mußte, die sie weder verschuldet, noch zu verantworten hatte.
Schließlich überzeugte sie nach langem Zureden die Großmutter, daß gerade am Heiligen Abend, wenn alle Grenzer beim Weihnachtsessen saßen, die gü,nstigste und ungefährlichste Gelegenheit für den Grenzübergang sei. In einer knappen Stunde wäre alles erledigt.

Was Johanna jedoch nicht berücksichtigte, war, daß der Kapitän der Soldaten, ein gefürchteter Deutschenhasser und Atheist mit dem Aussehen Luzifers, sich keinen Deut um Weihnachten scherte, weil ihm dieses Fest ohnehin ein Dorn im Auge war.
Am frühen Nachmittag des 24. Dezember trug Johanna wie von ungefähr einen Korb mit Wäsche zu einer entfernten Tante, deren Haus den Vorzug hatte, als letztes am Ortsende, der Grenze zugewandt zu stehen. Im Korb befanden sich drei lange weiße Männerunterhosen, drei weiße Leintücher, weiße Fußlappen und die wenigen Habseligkeiten der Flüchtlinge.
Eng an die Hauswände geduckt, schlugen zu Beginn der Dämmerung die beiden denselben Weg ein. Bei der Tante zogen alle drei die Unterhosen an, wickelten sich die Lappen um die Schuhe und verhüllten sich so mit den Leintüchern, daß nur das Gesicht herausschaute. Genau um achtzehn Uhr öffnete die Tante geschickt ein Parterrefenster, das zur Grenze hin lag.
Lautlos stiegen die drei hinaus und stapften durch den Schnee über eine leicht ansteigende Wiese der Grenze entgegen. Es war dunkel. Sie hielten sich eng beisammen. Plötzlich der Grenzgraben! Nun die kleine Fichtenschonung mit den zwergenhaft verschneiten Bäumen. Dahinter die Tellerhäuser Straße. Gerettet!
Einzelne Gestalten tauchten auf. Das waren die Leute, die gegen ein geringes Entgelt die Grenzgänger oder ihr Gepäck nach Oberwiesenthal brachten. Ein anerkennendes Flüstern ging von Mund zu Mund:"Die Johanna! Die traut sich was!" Es wagten sich nicht mehr viele über die Grenze. Stolz trug Johanna ihren Kopf ein bißchen höher. Sie hatte es geschafft. Ihre beiden Schützlinge umarmten sie schweigend. "Wenn es mir wieder einmal gut geht, bekommst du das schönste Kaffeeservice, das ich auftreiben kann," flüsterte die Frau.

Der Grenzgraben Johanna riß sich los. Eile war geboten. Zuerst die Fichtenschonung. Ein Satz über den Grenzgraben! Leichtfüßig lief sie über die Wiese. Nun abwärts.
Halt! Was war das? Der grelle Lichtschein eines starken Scheinwerfers blitzte auf, glitt suchend über die weiße Fläche. Blitzschnell warf sich Johanna in den Schnee, lag regungslos. Der Lichtstrahl wanderte weiter. Sie sprang auf, rannte davon. Da! Der Lichtschein kehrte zurück. Sprung in den Schnee! Regungslose Stille! Sprung auf! Weiter!
Sie hatte das Gefühl, daß ein Unsichtbarer ihr Befehle erteilte. Plötzlich stand der Lichtstrahl. Das Knattern eines Maschinengewehrs zerriß die Stille. Der markerschütternde Schrei eines Menschen, einer Frau, dann langgezogenes, qualvolles Stöhnen! In der Ferne Hundegebell.
Johanna rannte, rannte, rannte um ihr Leben.
Endlich sah sie etwas durch den aufkommenden Schneesturm schimmern. War das nicht Kerzenlicht? Der Sturm warf ihr Eisnadeln ins Gesicht, in die Augen. Ja, es war eine Kerze.
Fast taumelnd erreichte sie die dunkle Hauswand, das rettende Fenster. Es wurde leise geöffnet. Hilfreiche Hände zogen sie rasch in das Innere des Hauses. Ihre Tante wickelte sie aus dem nassen, weißen Zeug. "Gott sei Dank!" sagte sie. Mit immer noch heftig klopfendem Herzen schlich Johanna durch die Gärten zum Kriegelsteinhaus.
Sie huschte durch die Hintertür. Behutsam öffnete sie die Tür zur Stube. Die Großmutter und der Bruder knieten im Herrgottswinkel. Sie beteten. Wortlos nahm Betty die Enkeltochter in die Arme. Tränen liefen über ihr gutes, altes Gesicht. "Gott sei Dank!" sagte auch sie. ...
 
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